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Willkommen auf der Arche des Geschmacks!

11. April 2023

Durch die industrielle Landwirtschaft gehen leider immer mehr alte, sehr hochwertige Lebensmittel,
Nutztierarten, Kulturpflanzen und regionale Zubereitungsarten verloren. Die Herstellung ist zu aufwendig, sie liefern zu wenig Ertrag, sind zu anspruchsvoll im Anbau, oder in ihrer Form nicht passend für die industrielle Produktion. Dadurch gehen kulinarische Schätze verloren, die uns tolle Geschmackserlebnisse bieten und bestens an die regionalen Klima- und Bodenverhältnisse angepasst sind. Um diesem Rückgang der Biodiversität etwas entgegenzusetzen, rief die internationale Organisation Slow Food bereits 1996 die „Arche des Geschmacks“ ins Leben. Seitdem wurden weltweit mehr als 5.200 Passagieren aufgenommen. In Deutschland sind es derzeit 85, darunter Gemüse und Obstsorten sowie Tierrassen. Ein paar der Neuzugänge, auch aus der Region Stuttgart, stellen wir Euch in diesem Artikel vor.

Der Bittenfelder Sämling vom Hochstamm, eine über 100 Jahre alte Apfelsorte, verdankt seinen Namen dem ersten Fundort: dem Ort Bittenfeld, der mittlerweile Teilort Waiblingens ist. Zu seinen Besonderheiten gehört, dass er einen hohen Zucker- und zugleich einen hohen Säuregehalt hat. Zum Essen ist er deshalb weniger geeignet, dafür umso besser als Mostapfel. Verarbeitet wird er oftmals zusammen mit anderen Apfelsorten zu Streuobstapfelsaft. Wer solche Säfte kauft, tut der Umwelt ebenfalls etwas Gutes: Streuobstwiesen, die sehr gefährdet sind, bieten über 5.000 Tier- und Pflanzenarten eine Heimat – super für die Artenvielfalt.
Besonders wohl fühlt sich der „Bitterfelder“, wie er meist kurz genannt wird, in Weinbaugegenden, in denen das Klima nicht zu rau ist. In Gefahr ist er, da er für die industrielle Herstellung von Apfelsaft ungeeignet ist. Außerdem reift er später als viele andere Apfelsorten und wird deshalb entweder unreif geerntet oder einfach hängengelassen. Wer getreu des Arche-Mottos „Essen, was man retten will“ zum Erhalt dieses württembergischen Apfels beitragen will, findet auf der Slow-Food-Website zahlreiche Safthersteller und Brennereien.

Die Ziegenhaltung war früher sehr mit dem Wohlstand der Bevölkerung verknüpft: Je besser es den Menschen ging, desto weniger Ziegen gab es. Wie gut, dass Ziegenmilch heute wieder höher im Kurs steht. Quelle: Gerhard Schneider-Rose, Hof Rösebach

Ziegen wurden früher als „Kühe des armen Mannes“ bezeichnet, denn „richtige Bauern“ hielten Kühe und
produzierten Kuhmilch. Glücklicherweise schätzen heutzutage immer mehr Menschen die sehr gut
bekömmliche Ziegenmilch, weshalb es wieder mehr Ziegenbauern und -bäuerinnen gibt. Bei einer
entsprechenden Verarbeitung ist der typische Ziegengeschmack auch weit weniger ausgeprägt, als viele
erwarten. Also: einfach mal probieren! Die Milch der Thüringer Wald Ziege, die ebenfalls seit 2022 Passagier der Arche ist, schmeckt noch milder. Ihr Fleisch, das sich noch immer schwerer vermarkten lässt als die Milch, erinnert geschmacklich an Wildfleisch. Entstanden ist die „Thüringer Toggenburger“ Ende des 19. Jahrhunderts, als Ziegenzüchter aus Thüringen in die dort lebenden Rassen Toggenburger Ziegen aus der Schweiz einkreuzten. Ziel war eine höhere Milchleistung. Damit sie im Deutschen Reich als Rasse
anerkannt werden konnte, wurde sie in „Thüringer Wald Ziege“ umbenannt. Die braunen oder schwarzen
Tiere, deren Maul und Ohren weiß gesäumt sind, eignen sich bestens zur Landschaftspflege. Denn sie sind
bestens an das raue Klima des Thüringer Walds angepasst. Da alle Ziegen gerne junge Gehölze fressen,
reduzieren sie die Verbuschung von sogenannten Offenlandbiotopen, wie Wiesen und Heideflächen, die
ursprünglich bewaldet waren. Sie tragen also zum Erhalt dieser wertvollen Kulturlandschaften bei und liefern gleichzeitig schmackhafte Lebensmittel in Form von Milch, Käse, Fleisch und vielem mehr. Die Produkte der Tiere sind in zahlreichen Bundesländern erhältlich, darunter Baden-Württemberg. Slow Food stellt auf seiner Internetseite auch über diesen Archepassagier mehr Informationen bereit.

Binkelweizen sind eine gute Alternative für wenig ertragreiche Böden und Schutzgebiete, denn sie sind standfester und anspruchsloser als Hochzuchtsorten. Quelle: Jan Sneyd


Über kaum ein Getreide wurde hierzulande vermutlich mehr und kontroverser diskutiert als über Weizen: die einen verteufeln ihn als ungesund, die anderen betonen die Relevanz hochgezüchteter Sorten für die
Ernährung der Weltbevölkerung. Vermutlich liegt auch hier – wie so oft – die Wahrheit irgendwo dazwischen. Einigkeit besteht zumindest darüber, dass alte Weizensorten, analog zu alten Apfelsorten, besser verträglich sind. Dazu gehört der 3.000 Jahre alte Echte Binkelweizen, der früher in Europa weit verbreitet war. Sein niedrigerer Ertrag, der nur bei etwa der Hälfte bis einem Drittel einer hochgezüchteten Sorte liegt, machte ihm auf den Feldern den Gar aus: Quantität vor Qualität. Seine geringeren Ansprüche an Dünger und die Folgen des Klimawandels kommen ihm nun wieder zugute. Angebaut wird er allerdings weiterhin nur auf wenig Fläche, erfreulicherweise mit steigender Tendenz: 2018 waren es 180 Quadratmeter. In der Vegetationsperiode 2021/2022 immerhin schon 2,2 Hektar. Dank zweier Vertragslandwirte in Beuren-Balzholz und Bempflingen sowie eines dort ansässigen Bäckerhauses fand sich im Oktober 2020 nach über 100 Jahren erstmals wieder ein Binkelbrot in einer Bäckereitheke. Die Entwicklung der Rezeptur dauerte mehrere Monate! Wer die Brotsorte kosten will, dem sei ein Besuch auf dem „Markt des guten Geschmacks“, wie die Slow-Food-Messe in Stuttgart heißt, empfohlen. Die Messe findet traditionell in der Woche nach Ostern statt, in diesem Jahr vom 13. bis 16. April. Wer noch mehr über diese uralte Brotweizensorte erfahren möchte, findet weitere Infos auf der Website von Slow-Food und in einem Filmbeitrag, der am 18. März 2023 im Saarländischen Rundfunk ausgestrahlt wurde und für genau ein Jahr in der Mediathek zu sehen ist.

Zu den traditionellen Kirschsorten aus dem Oberen Mittelrheintal gehören insgesamt 86 verschiedenen Sorten, von Süßkirschen über Sauerkirschen bis zu Bastardkirschen. Quelle: A. Braun-Lüllemann

Dank des Engagements von Slow Food Rhein-Mosel wurden 2021 verschiedene traditionelle Kirschsorten
aus dem Oberen Mittelrheintal in die Arche des Geschmacks aufgenommen. Aufgrund des fast mediterranen Klimas im Oberen Mittelrheintal gedeihen an dessen Hängen besonders wärmebedüftige Kulturen, wie die „Früheste der Mark“, die „Königliche Amarelle“ oder die „Schöne von Chatenay“. So wohlklingend wie ihre Namen, so besonders ist ihr Geschmack. Leider sind die Kirschen heute kaum noch zu finden, denn die Ernte der Kirschen von den bis zu 15 Meter hohen Bäume ist aufwendig und gefährlich, die Konkurrenz aus dem Süden groß und die hiesige Bevölkerung eher dafür bekannt, wenig Geld für Lebensmittel auszugeben. Im europäischen Vergleich belegte Deutschland 2022 den (traurigen) vorletzten Platz. Ich bleibe – wie eigentlich immer – auch hier optimistisch und hoffe, dass Lebensmittel hierzulande alsbald wieder mehr wertgeschätzt werden. Die Arche des Geschmacks bietet ausreichend Möglichkeiten, alte, vom Aussterben bedrohte Sorten und Rassen durch den Kauf ihrer Produkte zu unterstützen. Der Infoflyer kann über diesen Link heruntergeladen werden. Mehr zu den traditionellen Kirschen findet sich ebenfalls auf der Slow-Food-Website und über Slow Food selbst in unserem Beitrag „Slow Food – authentisch und ursprünglich“, der bereits hier auf dem Blog erscheinen ist. Da bleibt mir nur noch, Euch kulinarische Genüsse zu wünschen, die Ihr gerne über das Kommentarfeld mit uns teilen könnt!

Lust auf mehr? Hier kommen die Links zu unseren Kursen:

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